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Martin Minde        Farbkunst

 

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Werkübersicht: Malerei zwischen 1963 und 1997

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Aufbruch in die Farbkunst

Einleitung

Verehrte Zuhörer, wie ging es Ihnen, als Sie auf der Einladung den Titel des Vortrags lasen: „Aufbruch in die Farbkunst“? Haben Sie gestutzt? Sich gefragt: Gibt es nicht schon seit Jahrtausenden Farbkunst in höchster Vollendung? Man denke nur an die Höhlenmalereien von Altamira! Das steht außer Frage.
Hier soll es um die Bewegung gehen, die etwa Mitte des 19.Jahrhunderts einsetzte und Farbe als solche ins Zentrum stellt. In ihr gilt es, das Wesen der Farbe mehr und mehr zu erschließen, zu erfassen, zu deuten und um nichts anderes.
Aufbruch heißt immer auch, etwas vielleicht lieb Gewonnenes zurück zu lassen. Es kann sein, dass ich Ihnen da einiges zumute. Aber Ihr Erscheinen ist ja bereits ein Aufbruch und so hoffe ich, dass Sie auch dem Aufbruch folgen können, den ich hier zu skizzieren versuche.
Goethe und Albers werden zu Wort kommen, auch von Ostwald und Cézanne wird die Rede sein, mein Homogenes System wird, auf Albers fußend und ihn überwindend dargestellt werden. Lassen Sie sich mitnehmen in das Abenteuer des Aufbruchs.


Aufbruch in die Farbkunst

Verehrte Zuhörer, die meisten unter Ihnen werden den Sprung vom Klassizismus des 19.Jahrhunderts mit seiner fast peinlichen Förmlichkeit in die flirrende Farbigkeit des Impressionismus kennen, ebenso wie die Farbenglut eines Van Gogh, die dichte Kraft farbigen Zusammenhaltes bei Cézanne, den märchenhaften Lyrismus von Gauguin und Sie werden auch das Überspringen der Begeisterung für die Farbe nach Deutschland verfolgt haben, das die Bewegungen von „Blauem Reiter“ und der „Brücke“ hervorgebracht hat, auch Jahrhundertkünstler wie Beckmann, Kandinsky und Klee.

Etwas weniger bekannt dürfte die Verquickung der bahnbrechenden malerischen Errungenschaften mit den Farblehren sein, die zeitgleich entwickelt wurden. Bekanntlich haben die Impressionisten die prismatischen Farben geliebt. Über Delaunay, der mit Macke befreundet war, gelangte das Prisma auch zu Franz Marc, der damit seine Farbgrenzen „kontrollierte“, wie er in einem Brief schrieb. Über Chevreul, den für die Franzosen so wichtigen Farblehrer weiß ich nichts, aber die Goethesche Farblehre habe ich eingehend studiert. Er war bekanntlich stolzer auf sie, als auf alle seine literarischen Werke und glaubte, mit ihr den Künstlern ein wissenschaftliches Fundament gegeben zu haben, auf dem sie aufbauen könnten.

Hören wir, was er in der Einleitung zum Entwurf seiner Farblehre schreibt:
„Wir sagten, die ganze Natur offenbare sich durch Farbe dem Sinne des Auges. Nunmehr behaupten wir, wenn es auch einigermaßen sonderbar klingen mag, dass das Auge keine Form sehe, indem Hell, Dunkel und Farbe zusammen allein dasjenige ausmachen, was den Gegenstand vom Gegenstand, die Teile des Gegenstandes von einander fürs Auge unterscheidet. Und so erbauen wir aus diesen dreien die sichtbare Welt und machen dadurch zugleich die Malerei möglich, welche auf der Tafel eine weit vollkommenere sichtbare Welt, als die wirkliche sein kann, hervorzubringen vermag.“

Ein unglaublicher Anspruch: durch die Tafelmalerei könne die Welt weit vollkommener sichtbar werden, als sie es in Wirklichkeit sei. Wie kommt Goethe zu dieser Behauptung?
Aus dem Phänomen der Nachbilder leitet er unser „Bedürfnis nach Totalität“ im Farbensehen ab. Es zu befriedigen bedeute Harmonie. Nur anhand der geistigen Vorstellung „von der Idee dieser Harmonie“, wie sie etwa (im Einklang mit prismatischen Versuchserscheinungen) im Farbkreis zu verkörpern sei und von den verschiedenen Möglichkeiten von Verhältnissen, die sich zwischen seinen Farben ergeben, so meint Goethe, sei es uns möglich „die Natur durch Totalität zur Freiheit heraufzuheben“ (813). „Vollkommener“, so wird jetzt klar, bedeutet also reicher in Bezug auf das gesamte Potential dessen, was uns aufgrund unserer Sehnatur an Sichtbarkeit zugänglich ist.

An dieser Stelle möchte ich Ihnen zeigen, wie Goethe, im Unterschied zur physikalischen Lichtzerlegung in die Spektralfarben, seine Theorie der Bildbrechung aus der Anschauung gewann. Wenn Sie diese Darstellung in bestimmtem Abstand durchs Prisma betrachten – Sie können das nach dem Vortrag selber tun – werden die verschieden hellen Farbkreise zu neutralen Helldunkelbewegungen. Bitte reichen Sie die Darstellung einstweilen durch und glauben es mir erst mal: die Buntfarben verschwinden tatsächlich, verwandeln sich in neutrales Helldunkel.
Werden also die Farben durchs Prisma in neutrale Spektren unterschiedlicher Helligkeit zerlegt? So könnte man etwas spitz die Physiker fragen, die sich so viel auf ihre Lichtzerlegung einbilden.
Goethe macht in seiner Deutung des Newtonschen Versuches darauf aufmerksam, dass nur der durchs Dunkle begrenzte Lichtstrahl das Spektrum entwirft. Schickt man unbegrenzt Licht hindurch, erscheinen keine Farben, außer vielleicht an den Rändern, wo ja wieder Helles auf Dunkles trifft.
Warum ist das für ihn, ja man darf mit Recht behaupten, und ich tue das, auch für uns, von so großer Wichtigkeit?
Goethe erklärt das sehr plausibel: in Wahrheit passiere nicht Licht allein das Prisma, sondern eine bildliche Komposition aus Licht und Finsternis. Nur der begrenzte Lichtstrahl ermögliche jene Interaktion zwischen Licht und Finsternis die wir als Farbe erleben. Das Prisma hat also etwas mit Komposition zu tun. Wir werden noch darauf zurück kommen.
 
Die Physiker haben darüber immer gelächelt, aber in jüngster Zeit hat ein Wiener mit erstaunlichen Versuchen von sich reden gemacht, in denen er statt des Gegensatzes von Weiß und Schwarz zum Beispiel einen von Gelb und Blau nimmt, die nun beide, als Farblichter komponiert, das Prisma, auch für die Physiker nachvollziehbar, passieren und ein, wie er es nennt, „unordentliches“ Spektrum entwerfen, das gestaltlich dem ordentlichen gleicht, aber ganz andere Primärfarben enthält. Das Gleiche macht er auch mit anderen komplementären Lichtpaaren. Ich habe sein Buch „Zur Farbenlehre – Entdeckung der unordentlichen Spektren“ mitgebracht, in das Sie nachher Einblick nehmen können. Ingo Nussbaumer, so heißt der Autor, kommt am Ende seines Buches zu dem Schluss, dass sie „ein in sich fortgreifendes und auf sich zurückleitendes System von Farben, das heißt: ein geschlossenes Farbsystem“ bilden.
Meine eigenen Untersuchungen haben ähnlich ergeben, dass das Prisma geeignet ist, farbige Relationen, speziell in ihrer gegenseitigen räumlichen Ausrichtung, erkennbar zu machen. Das ist von unschätzbarer Bedeutung für die physikalische Messung, die sich bisher nur auf den Identitätswert der Farbe bezog, nicht auf ihren Relativwert.

Wie bedeutsam der nicht nur für uns Maler, sondern ganz allgemein für unsere visuelle Wahrnehmung ist, hat Josef Albers uns nahe gebracht. Im Rahmen der Veröffentlichung der Studienmappe „Interaction of Color“ hat er seine Lehrmethode vorgestellt.
Ziel seines Unterrichtes war „to open eyes“. Er folgte der Einsicht: „Nur was ich erfahre, hält“, zog also die Praxis der Theorie vor, „die schließlich das Ergebnis von Praxis ist“.
Er hielt nichts von „Selbstexpression“, handschriftlicher Textur, ließ deshalb mit Farbpapieren in einheitlichem Ton arbeiten.
Es galt, Lösungen für bekannte Probleme“ auszuarbeiten und neue Probleme“ zu entdecken und zu visualisieren, „Varianten... innerhalb eines vorgegebenen Schemas“ zu finden, da es nie nur eine Lösung für ein modellhaftes Farbphänomen gebe. „Form“, so meinte er, „beansprucht endlose Vorführungen“.
Ganz ins Gestalten vertieft, vergisst Albers mit seinen Schülern die eigene Person, eine, wie ich finde vorbildliche Haltung, leben wir doch in einer Zeit, in der wieder die eigentlich für abgetan gehaltene Sucht, Persönlichkeit, wenn nicht gerade Genialität, zu produzieren, um sich greift.
Das Experimentieren in Hinblick auf bestimmte Aufgaben war ihm wichtig, etwa, dass in Streifen alle Farben „gleich wichtig“ sein mögen, „keine Farbe soll dominieren“ oder auch umgekehrt auf Dominanz einer Farbe hin gearbeitet wird.
Bei freien Kompositionen sollte „Farbe um der Farbe willen“ existieren, „als autonome Größe und nicht als bloßes Anhängsel der Form.“ Aber er vermeidet zu definieren, „ob etwas ‚Farbe hat’ oder nicht“. Das sei genauso schwer „wie die Frage, ‚was ist Musik’ oder ‚was ist musikalisch’“. Man wird wohl am besten in seinen Bildern finden, was er damit meint.

Sein zentrales Anliegen war die Relativität in der Farbwahrnehmung. Sie stehe als psychische Wirkung im Widerspruch zur physikalischen Wirklichkeit. Den „factual facts“ objektiver Gegebenheiten stünde die verarbeitende Wahrnehmung in den „actual  facts“ der wirklichen Erscheinung der Farbe gegenüber, die sich gerade in der Täuschung bewähre. So vergleicht er Farbe mit einem „actor“ (Schauspieler): „Dieser begibt sich seiner eigenen Identität und stellt Erscheinung und Charakter einer anderen Person dar“.
Als „Ursache aller Farbtäuschung“ bezeichnet er den Nachbildeffekt, den er mit dem Simultankontrast gleich setzt, Basis der Wechselwirkungen von Farben, ihrer „Interaction“.

Wenn man alle „Täuschungen“ und „Illusionen“ zusammen nimmt, so landet man bei nichts anderem als den darstellenden Qualitäten der Farben, die es auch den Alten erlaubten, Naturähnlichkeit im Bild zu erzeugen, die aber auch ein von ihnen noch nicht ausgeschöpftes Potential enthalten, das es zu erschließen gilt.
Eine Wendung von der Darstellung der äußeren Natur zur Darstellung der Natur unserer Wahrnehmung kommt in den Worten zum Ausdruck: „Da wir grundsätzlich mit dem Material, mit der Farbe als Farbe beginnen, mit ihrer Wirkung und Wechselwirkung, wie sie sich in unserem Bewusstsein spiegelt, analysieren wir zuerst und hauptsächlich uns selbst.“
Dabei geht es offenbar um eine allen gemeinsame Natur des Farbensehens, also nicht um persönliche Vorlieben, Geschmack oder Voreingenommenheiten aller Art, sondern um die unverstellte, wahre Natur unseres Sehens.

Josef Albers ist mit seinem Diktum, nur der Schein trüge nicht, zum Augen öffnenden Farblehrer geworden. Und er hat zugleich auf die Ursache davon aufmerksam gemacht, dass nämlich Farbe immer kompositionsabhängig erscheint.
Nach ihm ist es nicht mehr möglich, Farbe ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Identifizierbarkeit zu betrachten. Ihre Identität besteht nicht allein darin, dass verschiedene Farben einander ausschließen, vielmehr ebenso im gewisslich wahren Faktum, dass alle Farben mit einander in verwandtschaftlichem Zusammenhang stehen und diesen auch in ihrer Erscheinung ausweisen.

Albers hat mit der Sammlung studentischer Arbeiten, die unter dem Namen „Interaction of Color“ bekannt geworden ist, die Vielfalt möglicher Erscheinungen dem Sein nach identischer Farben ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gehoben. Und es war sein Verdienst, diesen „Schein“ als visuelle Realität absolut und für alle gültig ernst zu nehmen, statt ihn als „optische Täuschung“ zu entwerten. Das war in einer Zeit, in der die Maler sich der Aufgabe entledigten, das Schöne im Schein der Natur darzustellen, so etwas wie eine Rettungsaktion, wenn nicht gar Überhöhung des Scheins: nur der Schein trüge nicht, so verkündete er den neuen, von der Gegenstandsdarstellung unabhängigen Schein als das wirklich Wahre, den eigentlichen Inhalt der neuen Kunst.
Allerdings suggerierte Albers mit seinem berühmten Diktum auch die Nichtigkeit des Seins nicht nur der Natur, sondern auch der Farbe. Das ginge aber an der Wirklichkeit vorbei, in der beide Aspekte (Sein und Schein) sich für unser Erkennen vereinigen. Immer nur mit den gleichen Augen können wir sowohl das isolierte Sein als auch die Interdependenz der Farben wahrnehmen und deshalb als in der Erscheinung eins verstehen.

Albers spricht vom „Verhalten“, das die Farben in ihrer Begegnung mit einander zeigen. Es fällt uns schwer, hier von Verhalten zu sprechen, da wir im objektiv auf der Bildfläche Sichtbaren etwas von uns selber Getrenntes, nur Äußerliches, keineswegs aber Personales zu sehen gewohnt sind, statt in ihm das Spiegelbild unser selbst samt unserem Verhalten wahr zu nehmen. Ja erkennen wir denn nicht, dass auch wir, wie die Farben, uns selber immer gleich bleiben, obwohl wir uns gegenüber Anderen ganz verschieden äußern?
Albers hat in dieser Hinsicht den Weg zu neuer Bildlichkeit gewiesen, die das bloß „Konkrete“ hinter sich lässt, damit auch den Bildbegriff rettend, indem der Weltbildung von früher die Realisation des Bildes unseres Farbensehens entgegensetzt wird.

Beim erneuten Durchlesen der Äußerungen von Albers über seine Lehrmethode wurde mir bewusst, wie sehr er mein Arbeiten befruchtet hat, aber auch, wie weit ich mich von ihm entfernt habe.
So überraschte mich seine Bemerkung, dass die Auffindung von „Varianten ... innerhalb eines vorgegebenen Schemas“, wie etwa seines Fensterschemas, in dem 3 Farben wie 2 erscheinen, „endlose Vorführungen“ beanspruchten. Hatte nicht genau dies zur Gestaltung meines „Homogenen Richtungsfarbraumes“ geführt? Er präsentiert ja tatsächlich endlose Varianten dieses Schemas, fasst sie repräsentativ in ihrer Fülle zu einem System zusammen.
Nach den Schemen auf dem Blatt, das Sie in Händen halten, ist der ganze Farbraum aufgebaut. In der mittleren Abbildung auf der linken Seite sehen Sie in den über einander liegenden Feldern zwei nicht stark differierende Farben, die sich umgekehrt in den Infeldern zu wiederholen scheinen. Wir sehen wirklich zwei verschiedene Farben in diesen Fensterchen, obwohl sie ebenso wirklich gleich sind, wie wir leicht feststellen können, indem wir ihren Farbton nachmischen oder in einem Farbsystem aufsuchen und in die beiden Infelder einbringen, mit denen sie dann verschmelzen.
Wichtig ist die Erfahrung, dass sie dabei ihre zweifarbige Erscheinung bewahren. Weder das Sein, noch der Schein „täuschen“. Beide sind eins und in der Erscheinung gleich wahr. In Bezug aufs Sein wird die Farbe mit sich selber verglichen, in Bezug auf den Schein mit anderen Farben, gegenüber denen sie in räumlicher Richtung und ihrem Abstand nach im Verhältnis stehen. Nicht „Interaktion“ zeigt das, sondern das statische Gefüge räumlicher Relation der Farben.
Dass Form und Farbe eine Einheit bilden sollen, war immer schon Prinzip der Maler. Man hatte die Farbe der Form gewissermaßen einzupassen. Nun ist es auf einmal umgekehrt: ein farbiges Phänomen ist da und es gilt, seine Form auszulesen, damit man es farbig variieren kann. Statt eine Form farbig zu variieren, gilt es nun, ein Farbphänomen von bestimmter Gestalt zu variieren.
Farbe und Form sind als Einheit bereits im Phänomen als Gestalt enthalten und soll als Ganzes farbig abgewandelt werden.
Sie sehen auf der rechten Seite Abwandlungen des besprochenen Fensterschemas in kontinuierlicher Art, die alle von gleicher farbformaler Gestalt sind und eine fortlaufende Reihe von Farben enthalten, die in gerader Richtung zwischen zwei Extremen vermitteln. Oben links ist sie in zentrische Komposition gebracht und Sie sehen, dass kein fremder Ton aus der Richtung zwischen den beiden Polfarben ausschert. Unser Urteil darüber ist sehr präzise und so eignet sich dies Schema zur Kontrolle der Fensterreihen-Farben.
Das reicht aber noch nicht zur Koordination aller möglichen Farbgeraden im Raum. Links unten sehen Sie ein Schema, in dem sich Fensterfelder kreuzen. Mit ihm gelingt es, aus linearen Farbbewegungen flächige Netze zu etablieren.

Um Ihnen eine Vorstellung des Homogenen Systems zu ermöglichen, habe ich zwei Darstellungen für Sie gemacht, in denen ein Teilbereich von ihm visualisiert wird. Sie liegen hier für Sie zum Anschauen auf.
Im Ganzen enthält das System repräsentativ die Fülle aller Varianten seiner Gestaltungsschemata. Und darüber hinaus lassen sich mit seiner Hilfe auch alle Varianten aller möglichen farbformalen Schemen finden, die bestimmte Farbphänomene zum Inhalt haben.
 
Solche zu finden bleibt nach wie vor spannend, während das Auffinden von Varianten nun zur regelgerechten Transformation wird, wie zum Beispiel die Abwandlung von Rundgestalten, die Sie auf der Rückseite Ihres Blattes finden. Ihr geheimer farbiger Mittelpunkt ist nicht das mittlere Grau. Sie bewegen sich vielmehr um verschieden farbige Mittelpunkte. Eine solche Abwandlung fasste Runge in seiner Konzeption der Farbkugel noch nicht ins Auge. Sie ist nur anhand des Homogenen Systems zu bewerkstelligen.
 
Vielleicht sollte ich hier noch etwas über den Naturforscher Wilhelm Ostwald einfügen, dessen großes Verdienst darin bestand, dass er eine empfindungsgemäße Farbordnung in Doppelkegelform konzipierte, die er mit objektiver Messung verknüpfte. In der Gestalt des Doppelkegels drückte sich ihm bereits Gestalt der Farbe aus. Sie war nicht mehr nur bloße Anordnung, sondern stellte Farbrelationen dar, um die es auch Runge gegangen war.
Er betrachtete Farbe zwar der Psychologie zugehörig, suchte aber physikalische Methoden, etwa der Strahlenmessung, oder der Kreiselmischung zu finden, mit deren Hilfe die psychische Empfindung, gemeint ist die konkrete Erscheinung der Farbe in der Komposition, gesetzlich repräsentiert werden kann.
Die Künstler im Bauhaus fanden seine „Harmonie der Farbe“ aber unmöglich. Klee kommentierte Ostwalds Harmonien der Weiß- bzw. Schwarzgleichen, der Vollgleichen und Klargleichen mit den bissigen Worten, dass „gleich zu gleich, gleich fad“ sei.
Aber natürlich waren Ostwalds Ansätze, die Wahrnehmung zu vermessen auch für  die künstlerische Praxis durchaus relevant. Besonders Jakob Weder und Wolfram Jaensch entwickelten sie weiter und zeigten, dass sie Dimensionen eröffnen können, von denen sie mehr als nur eine Ahnung vermitteln.

Allerdings sollte man nicht glauben, dass eine farbige Ordnung absolut gesetzt werden könnte. Dazu ist die Farbe und ihre Beziehung zur Form zu vielfältig. Bereits die Gestalt des Kegels oder der Kugel verlangt, wie ich entdeckte, ganz spezifische Farbe-Form-Relationen, die innerhalb etwa von Ostwalds Doppelkegel-Raum oder auch Runges Farbkugelmodell nicht in ihrer ganzen Vielfalt enthalten sein können. Zum Auffinden von Rundheit oder konischer Form bedurfte es der Auswahl bestimmter Farben und ihrer bestimmten Projektion auf die entsprechenden sphärischen Flächen, die dann ihrerseits in bestimmter Weise auf der Bildfläche abgewickelt werden können, so dass sie Rundheit, beziehungsweise konische Form „realisieren“, um ein viel gebrauchtes Wort von Cézanne mit neuem begrifflichem Inhalt zu füllen.

Man kommt um diesen Künstler in der Entwicklung reiner Farbkunst nicht herum. Um seine Bedeutung zu erfassen, ist es sinnvoll, noch einmal Goethe zu reflektieren, diesmal bezüglich seines Kunstverständnisses.
Dass im Sichtbaren der wirklichen Welt gegenüber demjenigen bloßer Tafelmalerei mehr steckt als allein das Sichtbare, d.h. dass wir in ihm z.B. Bäume, Menschen, Materialien, Lichtverhältnisse sehen, steht nach Goethes Kunstauffassung zu dem potentiellen Mehr der Tafelmalerei aufgrund der Einsicht in die Natur unseres Sehens nicht im Widerspruch, sondern sei vielmehr mit ihm durch „Nachahmung“ in Einklang zu bringen. Gerade darin sieht er die Hauptaufgabe der Kunst.
Es ist also für ihn notwendig, dass der Schein des Bildes Gegenständlichkeit beinhalte, die durch Naturähnlichkeit zu sichern sei. Sie wird aufgrund der Analyse des in der wirklichen Welt Sichtbaren erreicht, indem man die phänomenalen Schemen (etwa der verschiedenen Helldunkelmodellierungen bei unterschiedlichen Materialien), die diese beherrschen, vom Sichtbaren abstrahiert und für den Aufbau der sichtbaren Welt auf der Tafel konstruktiv nutzt. So wird man „imstande sein, unendlich schöne, mannigfaltige und zugleich wahre Erscheinungen darzustellen“ (879).

Das scheint Cézannes Auffassung zu entsprechen, die er bündig in die Formel fasste, Kunst sei „der Mensch zugetan zur Natur“. Aber sieht man dessen Malerei an, so wird man erkennen, dass in ihr (wie er selbst formulierte) die Einheit von natürlicher Wirklichkeit mit ihrem Konstrukt auf der Tafel (gemäß unserer visuellen Natur, wie sie Goethe anvisierte) zu einer „Parallelität“ geworden ist, in der das natürliche „Motiv“ eine Realität neben der anderen ist, die sich aus der Eigengesetzlichkeit unseres Sehens ableitet.
In der Bildwirklichkeit erscheint die Natur nun von ihrer Eigengesetzlichkeit erlöst, die in der Identität ihres Wesens mit dessen unfasslich flüchtiger Erscheinung verbunden war, ist in einem beständigen Ganzen aufgegangen. So ähnlich jedenfalls interpretiert Kurt Badt die Kunst Cézannes.

Wenn wir nun aber auch annehmen, dass Cézannes „Motiv“ von ihm auf mystische Weise in Eigenwirklichkeit des Bildes transformiert werden konnte, so wirkt diese doch autonom und zeigt, dass solche Wirkung möglich sei. Ist sie das aber, so erhebt sich die Frage, ob das, was im Bild erscheinen kann, nicht von vornherein Natur immer nur scheinhaft vorlügen könne, insofern ihm ihr wesentliches Mehr gegenüber dem bloß Sichtbaren fehlt.
Damit schließt sich der Kreis und wir wären wieder Bei Josef Albers und seiner Wendung zur bildlich konkreten Erforschung der Natur unseres Farbensehens, wie ich sie auch in den Arbeiten, die Sie hier sehen, weiter verfolge.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.