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Martin Minde        Farbkunst

 

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Werkübersicht: Malerei zwischen 1963 und 1997

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Farbformeinheit – Farbgestalt

Unter dem Begriff der Farbform verstehen wir ganz allgemein die Einheit von flächiger und farbiger Gestalt in der Bildkomposition. Sie ist leicht einsehbar, wenn wir uns das Zustandebringen z.B. einer beschleunigten Farbbewegung zum Dunklen hin klarmachen. Dieses lässt sich nämlich auf zweierlei verschiedene Weisen regeln: entweder wir gehen von einer gleichmäßigen Farbstufung aus und tragen diese in zum Dunklen hin schmaler werdenden Streifen auf die Bildfläche auf, die wir dann zu kontinuierlicher Bewegung verschmelzen, oder wir mischen uns eine Farbstufung aus, die zum Dunklen hin stetig gröber wird und tragen sie in gleich breiten Streifen auf, um sie dann zu vertreiben. In beiden Fällen können wir zum gleichen Ergebnis einer auf gezielte Weise beschleunigten Farbbewegung kommen. Dem Ergebnis sehen wir zwar nicht an, auf welche der zwei Möglichkeiten es zurückgeht, aber in seiner anschaulichen Gestalt verbirgt sich doch eine klare Bezogenheit von Flächen- und Farbgestalt, die wir in der Farbformeinheit erkennen und als beschleunigte Bewegung gestalten und benennen können.
Beschleunigung und Modulation im Kontrastmaß sind Formen, die ein Auseinandergehen in Flächen- und Farbgestalt bezeichnen, während im Gleichmaß der Farbbewegung Form- und Flächengestalt gleichsinnig zusammenwirken. Frei von formaler Spezifikation erscheint der homogene Verlauf leer und doch voller Gestalt, denn er birgt die ganze Fülle formaler Spezifikation als gestalterische Potenz. Daher die Forderung aller Farbordnung, die mehr sein will als bloße Anordnung, nämlich Formulierung farbiger Gestalt, nach möglichst durchgängigem Gleichmaß.
Unseren von Ausmalbüchern schon in Kinderzeiten geprägten Formbegriff, nach dem Farbe nur ein Füllsel der Form ist, statt selbst entscheidend an ihr beteiligt zu sein, müssen wir also von Grund auf revidieren. Offenbar gibt es in der Farbe formende Kräfte, einen formalen Zusammenhang in ihren internen Relationen – wir nennen ihn Farbgestalt – der sich der Flächengestalt verbindet und erst im Verein mit ihr die farbformale Erscheinung hervorbringt.

Wenn allerdings eine völlige Abstraktion der Form von der Farbe auch nicht möglich ist, so doch diejenige von der Buntheit. Denn tatsächlich ist das Helldunkel in der Farbigkeit das formbestimmende Element, wenigstens wenn man Form als dasjenige in der Erscheinung ansieht, was ihre Körperbildung im Raum ausmacht, ihre Plastizität.
Wie man freilich an Negativen von Schwarz-Weiß-Fotografien beobachten kann, spielt im Helldunkel die Poligkeit eine wichtige Rolle. Obwohl auch in den Negativen Räumlichkeit erscheint, so doch nicht formgleich mit dem Positiv, vielmehr seltsam „unnatürlich“, da die Lichtverhältnisse, wie wir sie von der Natur her kennen, in ihr Gegenteil verkehrt sind. Wir empfinden uns gewissermaßen wie in eine Schattenwelt versetzt. Hell ist eben nicht gleich Dunkel.
Wie ist es aber mit hellgleichen Farben? In ihnen unterscheiden wir unterschiedlich leuchtende Farben mit spezifischen Gewichten, die verschieden dicht wirken, wie Energien unterschiedlicher Qualität und Intensität, aber nicht reliefhaft von einander abgehoben, sondern in der Fläche bleibend, diese nur in ihrer Materialität verwandelnd, in einem Zustand der Anregung oder Passivität, der Wärme oder Kälte, der Durchsichtigkeit oder Fülle.
Geht man den Relationen der hellgleichen Farben nach, so wird man auch in ihnen Poligkeiten entdecken, zwischen denen bestimmte andere Farben kontinuierlich vermitteln. Und das Besondere gegenüber dem Helldunkel ist nun, dass sich solche gestuften Verbindungen zwischen verschiedensten Farbpaaren bilden lassen, nicht nur auf Wegen, die über Grau führen, sondern auch über farbige Zwischentöne. Im Bestreben die Ordnung zu finden, in der all diese möglichen polaren Bewegungen enthalten sind, gelangte ich zur Gestaltung zweidimensional bewegter, homogener, hellgleicher Netzstufungen, in denen gleichmäßige, gerade Farbverbindungen in allen Lagen der jeweiligen Helligkeitsflächen enthalten sind.
Schon in der Gestalt der Munsellschen Farbordnung fand sich eine der reinen Helligkeitsbewegung gegengeordnete Farbbewegung in helligkeitsgleichen Flächen. Sie erfasste aber nur die gleichmäßigen Farbbewegungen zwischen dem jeweils helligkeitsgleichen Grauton und den Bunttönen, also nicht auch alle anderen möglichen Farbgeraden.
Der Schritt zu einem dreidimensional geordneten, homogen strukturierten Farbraum, der in all seinen Farbraumgeraden polare, im Gleichmaß geordnete Stufungen enthielt, war folgerichtig, obwohl die Möglichkeit seiner Realisation zu Beginn meiner Versuche keineswegs feststand. Erst indem ich mich ganz auf die Gestaltungsmittel der Fensterschemareihen und des Feldschemas einließ, gelangte ich auf sicheren Boden (siehe meine 5 Bücher mit dem Titel „Farbe“) und damit zu einem System, das zur Bestimmung der Farbform unabdingbar notwendig ist. Denn eine solche ist nur anhand einer Ordnung möglich, in deren Gestalt alle Möglichkeiten farbiger Abwandlung eines farbformalen Schemas unter Beibehaltung seiner Erscheinungsgestalt enthalten sind, Möglichkeiten, die in der Veränderung des Kontrastmaßes, der Verschiebung und der helligkeitsgleichen Ausrichtung des im Bild verwendeten Farbenkomplexes im Farbraum bestehen, weil in dessen Struktur die formalen Bestimmungsstücke der Farbrelationen enthalten sind, die für die Farbform verantwortlich sind, nämlich Kontrastgleichmaß und tonale Ausrichtung der Farben untereinander.

Einem Aspekt der Farbgestalt wird das Homogene System aber nicht gerecht. Goethe hat ihn angesprochen, wo er das „Urphänomen“ der prismatischen Brechung durch Bildverschiebung des Hellen über das Dunkle und des Dunklen über das Helle erklärt. Dahinter steckt die aus Beobachtung geschöpfte Idee, dass die Farben die Kluft zwischen Hell und Dunkel überbrücken. Im Violettblau nähern sich die Farben der Dunkelheit des Schwarz, obwohl es ihm gegenüber lichthaft wirkt. Umgekehrt nähert sich Gelb in der Helligkeit dem Weiß, obwohl es ihm gegenüber materielle Schwere enthält, die es zum Schwarz hinzieht. Die farbigen Helligkeitspole Gelb und Nachtblau aber schließt der Farbkreis über die beiden Pole Grün bzw. Rot dynamisch zusammen. Die von den „Neutonianern“ (wie Goethe seine theoretischen Feinde verbalhornend nannte) viel geschmähte Lehre birgt also einen phänomenalen Kern, der gar nicht von der Hand zu weisen ist.
Im fernöstlichen Zeichen des Yin-Yang werden alle Poligkeiten, auch die der Farbe, dynamisch in einander übergeführt als einander bedingende Lebensprinzipien. Im Rot der Mitte werden sie vordergründig, im Grün des Umfeldes hintergründig eins, wie in der Runddarstellung (Fig.1).                                     
Nimmt man eine solche Runddarstellung als projektive Abwicklung einer Kugeloberfläche, diese als äußere Begrenzung eines Farbkörpers mit mittelgrauem Zentrum, so kommt man in den Verbindungen aller farbiger, diametral entgegengesetzter Polaritäten zwar zu allen möglichen Farbgeraden über das mittelgraue Zentrum hinweg, aber nicht zu denen, die beliebige andere Farben der Außenhülle mit einander verbinden.
So stellte sich mir die Frage, ob es nicht eine farbsystematische Ordnung gäbe, die sowohl die gegenseitige Ausrichtung der Farben zueinander in Farbgeraden enthält, als auch eine Komponente der Symmetrie bezüglich eines mittelgrauen Zentrums. Die Antwort fand ich im „Doppelwürfelsystem“, das zwei unterschiedliche, versetzt in einander greifende Würfel enthält, die in sich dreidimensional strukturiert sind, untereinander aber in zyklischer Weise auf ein gemeinsames mittelgraues Zentrum bezogen sind (Folge der Seitenansichten des Doppelwürfelsystems, wie sie Jürgen Opitz mit den originalen Außenfarben der beiden Würfel gestaltet hat. Fig.2-7).
Für Gelb und Nachtblau gilt, dass sie ihre stärkste Farbigkeit in bestimmter Helligkeit bzw. Dunkelheit entfalten. Ähnliches trifft auch für die übrigen Farben zu. Für die Eckfarben der beiden Würfel bedeutet dies, dass für entsprechende Helligkeiten gleichwertige Farbstärken zu finden sind, die sich eignen, zwischen Schwarz und Weiß zu vermitteln, ganz nach dem Goetheschen Konzept und so nimmt es nicht wunder, dass sie in prismatischer Beziehung zu einander stehen (siehe meine 3 Bücher über „Prismatische Farbordnung“).

 


Flächengestalt


Die beiden Bücher „Motiv im Farbwandel“ und „Schmetterlingstanz“ gingen von einem einzigen farbformalen Flächenschema aus, das mit sich selber in verschiedenen Symmetrien komplexe Beziehungen einging. Im vorliegenden Buch findet es erneut Verwendung, geht aber mit drei anderen farbformalen Flächenschemen komplexe Verbindungen ein (Fig. 8-11)
Im Prinzip scheint es ja ganz willkürlich, wo auf der Bildfläche welche der 7 möglichen Stufen der Skala einer Farbgeraden (vertretungsweise der 7 Graustufen) aufgebracht werden. Darin besteht die „Offenheit“ des farbformalen Schemas. In die konkrete Entscheidung für eine bestimmte Flächengestalt fließt aber natürlich ein Empfinden für Komposition ein – Bewegung/Gegenbewegung, Auswiegung von Gewichten, Verteilung der Kontraste im Sinne der Sichtbarmachung von Vielfalt und Einheit – es sind die geläufigen, eingeübten Urteilsfindungen, die erspürt werden müssen. Zudem sollten bei Überlagerung gespiegelter oder gedrehter Versionen in den erwähnten Büchern keine Monstrositäten entstehen. Da war vielleicht manches grenzwertig, könnte gewiss klüger, raffinierter gemacht werden als ich dies mit meinem Schema zustandebrachte. Neuland muss erst erkundet werden!
Die neue Herausforderung durch Überlagerung unterschiedlicher Flächengestalten bestand darin, von vornherein das „Zusammenklingen in Mehrstimmigkeit“ zu beachten. Auch hier gibt es unvertraute Umstände, etwa der Verknüpfung bestimmter Pläne mit den Farbdimensionen, in denen ich nur wie im Dunkeln umhertappen konnte und einfach Möglichkeiten ausprobierte.
Die Überlagerung unterschiedlicher Flächengestalten in 4 Farbdimensionen bedingte in der Gesamtgestalt eine sehr differenzierte Seitigkeit der kompositorischen Einheiten in den Bildvierteln. In der Zusammenordnung von jeweils vier farbig auf einander bezogenen Varianten einer solchen Einheit stand es frei, welche Ecken welcher Gestalt in der Mitte zusammenkommen sollten, in welcher Weise sich Spiegelungen, Drehungen, Verschiebungen im Farbraum gestaltlich in den Flächenschemen einander zuordneten. Die Möglichkeiten schienen fast unbegrenzt, so dass wieder ausgewählt werden durfte, eine abenteuerliche Reise voller unerwarteter Erlebnisse führte zu immer wieder neuen Kompositionen und Farbwirkungen und das aufgrund so einfacher Voraussetzungen.
Das Erstaunlichste dabei ist aber, dass bei all der Vielfalt nicht alles im Ungestalten verfließt, sondern die Variation der Flächengestalt je zu eigenen Farben, die farbige Differenzierung zu neuen Formen führt, in denen Wirrnis Gestalt annimmt, die mehr ist als bloße Farbform, ähnlich Musik, die mehr ist als bloßes Lautwerden.